Dienst am Rind
- ️@derspiegel
- ️Sun Nov 23 2008
Nicht einfach, sich dies kotkrustige Hinterteil als heilig zu vergegenwärtigen. Schon gar nicht frühmorgens um halb fünf, wenn draußen vor dem Melkstall eiskalt der Nebel hängt und sich jeder einzelne Muskel nur noch zurücksehnt ins warme Bett.
Steifbeinig ist die Kuh auf das Melk-Karussell gepoltert, gute 600 Kilogramm »Holstein-Friesian«-Rasse. Heilig für Hindus. Der Obermelker Avtar Singh ist aber Sikh. Gerade hat er das Euter desinfiziert, seine Frau Gurcharan die Saugpumpe angesetzt, es riecht faulig-süß und feucht, und am Ende der Schicht werden die beiden auch so riechen. Aber das merken sie nicht mehr. Nicht nach 15 Jahren Dienst am Rind.
Die »Interkommunale Kooperative der Landarbeiter« (Cila) von Novellara dürfte es eigentlich, laut Lehrbuchökonomie, nicht geben. Sie hat keinen Eigentümer und keinen anderen Zweck als den, Arbeit zu schaffen. Die Cila ist eine der letzten funktionierenden Agrarkooperativen der »Roten Emilia Romagna«, des sehr flachen und sehr klassenbewussten Lands am Fluss Po, zwischen Parma und Mantua.
1100 Hektar, 2000 Stück Vieh: Damit ist Cila in Italien einer der größten derartigen Betriebe. Die Kooperative wurde vor knapp hundert Jahren gegründet, um den Hungerleidern die Auswanderung nach Norden zu ersparen. Man produzierte Culatello-Schinken und Milch für den Parma-Käse, den Parmesan. Der Gewinn wurde geteilt, der Betrieb gehörte keinem, und wenn er pleiteginge, bekäme alles der Staat.
Daran hat sich nichts geändert. Nur dass die Kooperierenden heute Avtar Singh oder Gurcharan Kaur heißen und ihre Auswanderung schon hinter sich haben.
Avtar Singh hat jetzt wohl seiner 500. Kuh die 2000. Zitze gereinigt. Tickend saugt die Pumpe. Singh ist Vegetarier. Fleisch gibt es bei den Sikhs nur zu besonderen Anlässen, und eigentlich schneiden sich die Anhänger dieser Religion auch den Bart nicht. »Die ersten Monate«, sagt er, »hatte ich den Bart und den Turban. Aber das geht nicht mit der Arbeit. Zu viel ... merda!« Als Melker sei man den Entladungen doch recht nahe.
Der Goldene Tempel von Amritsar, das Heiligtum der Sikhs, wurde 1984 von der indischen Armee gestürmt. Avtar Singh verließ den Punjab, seinen heimatlichen Bundesstaat im Nordwesten Indiens, er war damals 29 Jahre alt.
Mit einem Touristenvisum kam er in die Po-Gegend, wo es ähnlich aussieht wie im Punjab, dem »Fünfstromland«, und wo ebenso viele Kühe herumstehen. Andere Sikhs arbeiteten damals schon als Tierpfleger in den Wanderzirkussen oder in den Ställen der Parmesan-Kooperativen.
So fing es an. Inzwischen leben etwa 50 000 Sikhs in der Po-Ebene, und auch die Carabinieri haben verstanden, dass man als Vespa-Fahrer mit einem Turban auf dem Kopf nicht noch einen Helm tragen kann.
»Es ist doch so«, sagt Maurizio Sassi, der Chef der Ställe: »Ohne die Inder könnte ich den Laden hier schließen. Kein Italiener steht doch nachts um eins auf, um sich von Kühen bescheißen zu lassen. Oder? Für 1600 Euro?«
Avtar Singh lächelt unter den Schläuchen und Hinterbeinen hindurch, hantiert mit der Desinfektionsdüse und hat es, Nachtschicht hin, Nachtschicht her, schon zu einem kleinen Haus mit einem Garten ringsum gebracht.
Außerdem, sagt Sassi, hätten diese Inder ein Händchen für Tiere. Und wüssten sich zu benehmen: »Ich meine, wann liest man über indische Drogendealer, Prostituierte, Gangs, Terroristen und so weiter? Nie. Ein Kollege hat jetzt eine Inderin geheiratet und sich als Auto einen Tata gekauft. Das ist Integration, oder?«
In einer benachbarten Käserei, in der die Parmeggiano-Laibe ganze Regalschluchten bilden, hätten sie jetzt zwei diplomierte Käsetechniker aus dem Punjab eingestellt: »So läuft es. Jemand arbeitet gut, dann will ein anderer Betrieb auch einen Inder, und jeder Inder hat noch einen Cousin und lässt ihn nachkommen.«
Sassi erzählt, wie er nach dem Mauerfall billig VEB-Kühe kaufen konnte, die zwar weniger Milch, aber mehr Kasein im Euter hätten. Heute hat jede fünfte Parmesan-Kuh Vorfahren aus der einstigen DDR und trägt deswegen die Kennung »DE« am Ohr.
Die Mischung sei wichtig. Weswegen er auch die marokkanischen Genossenschaftler nicht mit indischen zusammen zur Schicht einteilen würde.
Novellara ist ein Ort mit 13 000 Einwohnern, davon 15 Prozent Einwanderer, aus, wie es heißt, 65 Ländern. Der Bürgermeister Raul Daori gehört zur Linken, er war der einzige Ortsvorsteher in der Gegend, der zustimmte, als die Sikhs darum baten, einen Tempel bauen zu dürfen.
Die Sikh-Religion ist eine Art Synthese zwischen Hinduismus und Islam, ähnlich friedlich vielleicht wie eine Holstein-Friesian. Die Sikhs bleiben gern unter sich. Deswegen hatte der Bürgermeister keine Einwände gegen den Tempel.
Jetzt steht der Bau am Ortsrand, eine mit Wimpeln und Lichtschlangen verzierte Industriehalle, wo wohlklimatisiert unter einem Baldachin das heilige Buch der 1430 Seiten verwahrt wird. Kein Goldener Tempel, aber immerhin der zweitgrößte Sikh-Tempel in Europa. In der Tempel-Mensa wird täglich, vegetarisch und umsonst gegessen. Einzelne Plakate hängen neben der Küche. Märtyrerbilder und die Fahne der »Khalistan«-Bewegung. Die tritt für einen theokratischen Staat der Sikhs ein.
Unabhängig, frei und rein.
ALEXANDER SMOLTCZYK