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Niall Ferguson im Interview

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  • ️Sun May 19 2013

Reue nach Keynes-Kritik "Ein dummer Angriff auf Kinderlose und Homosexuelle"

Niall Ferguson macht einen Rückzieher: Der britische Historiker hatte dem Ökonomen John Maynard Keynes vorgeworfen, nicht langfristig gedacht zu haben, weil er schwul war und keine Kinder hatte. Die Empörung war groß. Im Interview entschuldigt er sich und spricht über sein neues Buch.

19.05.2013, 18.14 Uhr

Harvard-Professor Ferguson: Das Versagen des Euro war voraussehbar

Harvard-Professor Ferguson: Das Versagen des Euro war voraussehbar

Foto: Luca Bruno/ AP

SPIEGEL ONLINE: Herr Ferguson, sind Homosexuelle und kinderlose Menschen der Grund für den Niedergang des Westens?

Ferguson: Natürlich nicht. Das ist ganz und gar nicht die These meines Buches. Es wäre sehr bedauerlich, wenn jemand diesen Eindruck gewinnen würde. Mein zentraler Punkt ist, dass wir alle, egal ob wir Kinder haben und unabhängig von unserer sexuellen Orientierung, ernster darüber nachdenken müssen, was aktuelle politische Entscheidungen für zukünftige Generationen bedeuten.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben kürzlich gesagt, dass der Ökonom John Maynard Keynes nicht langfristig gedacht habe, weil er schwul war und keine Kinder hatte. Wie kam es zu dieser umstrittenen Aussage?

Ferguson: Ich wurde nach einer Einschätzung zu einer Beobachtung von Keynes gefragt. Es ging um den bekannten Satz "Auf lange Sicht sind wir alle tot". Ich gab eine dumme Antwort, die bezogen auf Keynes einfach falsch ist. Er hat nie argumentiert, dass wir nicht langfristig denken sollen. Keynes hatte keine Kinder, aber er hat versucht, welche zu bekommen, und in einer ernsthaften und bedachten Weise über die Interessen der zukünftigen Generationen geschrieben. Ich habe mich entschuldigt , weil meine Aussage ein dummer Angriff auf Kinderlose und Homosexuelle war. Ich bin ein Mensch, wir machen Fehler.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem neuen Buch, in dem Sie Keynes übrigens kein einziges Mal erwähnen, geht es um den Verfall der westlichen Welt. Was sind Ihre Kernaussagen?

Ferguson: Es geht um die negative Entwicklung des Westens, gesellschaftlich und politisch. Dabei greife ich vier wesentliche Punkte auf: Erstens geht es um öffentliche Mittel. Ich bin der Auffassung, dass es durch exzessive öffentliche Verschuldung einen Bruch im Generationenvertrag gegeben hat. Zweitens haben wir meiner Ansicht nach das Problem einer immer komplexeren Gesetzgebung und Regulierung. Ich bin dafür, diese zu vereinfachen, weil ein komplexes System für Fragilität und nicht für Stabilität sorgt. Es sollten mehr Probleme auf lokaler Ebene durch freiwillige Organisationen behoben werden. Zudem hat sich die Rechtsstaatlichkeit zumindest in den USA von einer Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Anwälte entwickelt, und viertens sehe ich, dass sich die Zivilgesellschaft insbesondere in Bezug auf die Mitgliedschaft in freiwilligen Organisationen im Niedergang befindet. Diese vier Phänomene helfen, die schwache Leistungsfähigkeit vieler westlicher Industrienationen zu erklären. Das Problem lässt sich nicht damit lösen, neues Geld zu drucken oder sich weiteres zu leihen.

SPIEGEL ONLINE: Die These vom Untergang des Abendlandes ist so alt wie das Abendland selbst und wurde bisher stets widerlegt. Warum sollten Sie recht behalten?

Ferguson: Wir müssen die strukturellen Probleme in Europa und in den USA erkennen. Nehmen wir die Euro-Zone: Deutschland und Südeuropa sind in den vergangenen 25 Jahren auseinander- statt zusammengewachsen. Probleme, wie beispielsweise Korruption und andere institutionelle Mängel sind in einigen Ländern gestiegen, besonders in Italien und Griechenland. Dagegen gibt es in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern keine wesentlichen Probleme. Wenn Sie sich die institutionelle Divergenz anschauen, finden Sie Erklärungsansätze, warum die Währungsunion gescheitert ist.

SPIEGEL ONLINE: Sie halten die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung also für einen Fehler?

Ferguson: Ja. Es war ein fundamentaler Konstruktionsfehler, eine Währungsunion ohne Fiskalunion funktioniert nicht. Ich habe das schon während der späten achtziger und frühen neunziger Jahre gesagt und vor der Einführung einer Währungsunion ohne eine Fiskalunion gewarnt. In den USA gibt es einen automatischen Ausgleich zwischen starken und schwachen Staaten. Das kann und wird in Europa nicht passieren. Das Versagen des Euro war voraussehbar.

SPIEGEL ONLINE: Also sollte Deutschland die Euro-Zone verlassen und zur Deutschen Mark zurückkehren?

Ferguson: Ich befürworte eine Euro-Zone ähnlich einer "Bundesrepublik Europa" mit einem Ausgleichssystem über Finanztransfers, aber ich glaube, dass es in Deutschland dagegen einen enormen politischen Widerstand gibt. Die deutschen Wähler glauben, dass sich Südeuropa Deutschland nur stärker anpassen müsste und alles wird gut. Ich kann mir vorstellen, dass die Euro-Zone schrumpft und ein im Wesentlichen deutscher Euro übrig bleibt, der in Nordeuropa genutzt wird. Dieses Szenario ist nicht unwahrscheinlich. Alternativ bleibt es bei der aktuellen Situation, in der Südeuropa unter hoher Arbeitslosigkeit und Dauerrezession leidet und die Euro-Zone als Ganzes schlecht dasteht.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind gegen weitere Staatsschulden. Halten Sie die Rettungspakete für die europäischen Krisenstaaten für falsch?

Ferguson: Geht man davon aus, dass ohne Hilfe für Griechenland, Portugal und Zypern die Währungsunion auseinanderzubrechen droht, dann sind die Hilfspakete notwendig. Viele deutsche Politiker, mit ein paar Ausnahmen, befürworten den Euro und wollen ihn behalten. Sie haben keine andere Wahl als zu helfen. Für Angela Merkel war es im vergangenen Jahr eine lehrreiche Erfahrung, dass ein griechisches Euro-Aus vergleichbar mit der Lehmann-Pleite wäre.

Das Interview führte Martin Motzkau