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Die denkende Hand

  • ️Tue Feb 04 2020

Die legendären Vorlesungen von Klaus Heinrich, der heute 92 Jahre alt ist, wurden nach Mitschriften und Tonbandaufnahmen teilweise als Bücher herausgegeben. Bisher aber nicht bekannt war, dass der Denker und Gelehrte auch ein zeichnerisches Werk produziert hat. Es wird jetzt erstmals in der Berliner Galerie Klaus Gerrit Friese präsentiert (zu sehen bis 22. Februar, nicht zum Verkauf).

Unter Klaus Heinrichs Dahlemer Hörern war seinerzeit auch Hanns Zischler, der Schauspieler, Dramaturg, Regisseur, Hörspielsprecher, Fotograf, Übersetzer und Essayist (von Zischler erschien zuletzt eine Neuausgabe seines Buches "Kafka geht ins Kino"). Hanns Zischlers Würdigung von Heinrichs überraschenden Zeichnungen, die er im Beisein des Meisters vor einigen Tagen bei der Vernissage in Berlin vortrug, dokumentieren wir hier.

Als ich zum ersten Mal der Zeichnungen von Klaus Heinrich ansichtig und schon allein von der schieren Menge überwältigt wurde, habe ich im Stillen gedacht: Warum wurde uns das all die Jahre vorenthalten? Die immer neuen Blätter, die Klaus Heinrich geduldig murmelnd erläuterte, verrieten mit jeder Enthüllung mehr, dass hier eine geübte, vom Schlag des Herzens geführte, denkende Hand am Werk war. Die Hand eines Künstlers.

Bemerkenswert neben vielem anderen war auch der gelegentlich erwähnte, aber nicht der einzige Ort ihrer Entstehung - die Blätter entstanden während der offenbar sehr langen und von mürber Verwaltungsprosa geprägten Sitzungen der Freien Universität Berlin. (Der Student Klaus Heinrich hat sie ja 1948 mitbegründet.) Papier war ja zur Hand, selbst wenn es nur die leeren Rückseiten von hektographierten Protokollen und Listen waren oder der Speiseplan der Mensa in der Van't-Hoff-Straße - eine gierige Künstlerhand nimmt, was sie kriegen kann.

So gesehen opponieren diese Zeichnungen auf beredte Weise stumm gegen das, was dort lang und breit verhandelt wurde. Klaus Heinrich erwähnte auch, und ich hoffe, dass ich hier kein Geheimnis verrate, dass einer seiner Sitzungs-Mitgefangenen - der Kunsthistoriker Tilman Buddensieg - immer wieder solche Blätter von ihm erbeten hat. Sie befinden sich heute im Nachlass von Buddensieg.

Kinder zeichnen, lange bevor sie schreiben. Klaus Heinrich hat sich davon nie entwöhnt

Wollte man einen gemeinsamen Zug fast aller Zeichnungen von Klaus Heinrich festhalten, so ist es die "verbindende Linie", das - möglicherweise unbewusste - Bestreben, etwas Zusammenhängendes, miteinander Verwobenes herzustellen, zu skizzieren. Mit leichter Hand! Und diese Geübtheit, diese Sicherheit, der Schwung, der Elan in den sich wiederholenden, ständig variierten tänzerischen Bewegungen des Stifts sind es, die mir den Philosophen und Lehrer der Religionswissenschaft ins Gedächtnis rufen. Es erschließt sich mir ein innerer Zusammenhang zwischen dieser unablässig zeichnenden, entwerfenden und suchenden Hand und dem peripatetischen Vortrag seiner Rede. Wenn er mit ausgewogenem Schritt vor seine Zuhörerschaft in diesem von unerschöpflicher gedanklicher Rede getragenen Gang dozierte, glaubte man auf geradezu physische Weise die Architektur von Gedankengängen vor sich entstehen zu sehen. "Zeichnen ist eine Linie um etwas Gedachtes", sagt das Kind.

Und: "Kindheit ist das Reich, darin niemand dir stirbt", übersetzt Rudolf Borchardt die amerikanischer Dichterin Edna St. Vincent Millay.

Kinder zeichnen, lange bevor sie schreiben. Zeichnen ermöglicht absolute Freiheit und spielt immer aufs Neue mit Entschiedenheit und eröffnet den Zugang zum Schwierigsten, zur Entscheidung. Spielt damit.

Die Bewegung der Hand, der Strich, teilt den Raum (die Fläche), schafft den Raum, getragen von dem kindlichen Elan einer beispiellosen, nach steter Erneuerung verlangenden Willkür. Die Leere, das erwartungsvolle und erwartungsvoll drohende, leere Blatt wird durchkreuzt, - und die Leere verschwindet.

Gibt es eine größere Freiheit, als sich diesem Elan zu überlassen, ihn immer wieder auszuprobieren? Und diese Lust, zu betrachten, was die Hand angestiftet hat!

Da capo senza fine!

Der Strich zerreißt die Fläche - formt sich zum Umriss, die Bewegung der Hand setzt sich mit dem Schlag des Herzens in der und in die Linie fort. Die so entstehende Spur kann alles umfassen und alles werden: Figur, Schraffur, Interpunktion - lange und weit vor der Schrift.

Wer zeichnet (ich wiederhole mich, tue also nur, was der Zeichnende immerfort auch tut), entscheidet, teilt, führt zusammen und verbindet - nach Gusto, Gutdünken und einer Spur folgend, die er mehr ahnt als kennt. Er muss sie aufspüren. Er konstruiert und verwirft und konstruiert von Neuem. Und lässt sich von dem, was sich da ab- und einzeichnet, forttreiben, lässt sich verblüffen und hinreißen - auch das eine Form des Risses.

Wenn einmal das Schreiben im Verbund mit dem Lesen die Oberhand gewonnen hat, wenn die Schrift mit ihren vorgezogenen Linien und Zeilen und ihrer unumkehrbaren Richtung auf den Plan tritt, zieht sich in der Regel das Zeichnen zurück. Der Zeichner, das Zeichnen verkümmert. Der kindliche Elan wandert gezähmt in die Handschrift. Dort angekommen, überlässt er sich, wenn's glückt, der Maxime Lichtenbergs "Lasst's lauffen!" Das Lesen verschafft neue, bis dahin unvorstellbare, imaginäre Räume. Die Hand verlernt und hat bald vergessen, welche Freiheiten ihr durch die Zeichnerei einmal zu Gebote standen. Sie wurde entwöhnt. Der Akteur (oder Autor) blickt vielleicht mit leiser Sehnsucht auf die wundersam vertrödelte Zeit und, falls er diese Blätter überhaupt noch einmal zu Gesicht bekommt, etwas befremdet zurück, als wäre "das alles" eine Kuriosität gewesen, deren Ursprung unauffindbar geworden ist. Aber was heißt schon "in der Regel"?

Besonders verlockend ist das unbeschriebene Blatt, wenn es eigentlich der Bürokratie dient

Diese Hand, Klaus Heinrichs Hand, wurde nicht entwöhnt, im Gegenteil, sie hat das Zeichnen nie aufgegeben, sie wurde zu einer denkenden Hand. Das Märchenhafte wie das Mythologische, die tänzerische Bewegung wie der weibliche Akt wurden von dieser Hand aufgegriffen und zu Papier gebracht. Allein dem Künstler zuzusehen, wie er die vielen seit Jahrzehnten angewachsenen Blätter aufschlägt, das Sujet kommentiert - sei es mythologisch, architektonisch, tänzerisch, und wie er dann gelegentlich die Rückseite betrachtet, ist ein großes Vergnügen. Die skizzierende Hand konnte und wollte den sirenenhaften Lockungen des unbeschriebenen Blattes, des Gelegenheitsblattes nicht widerstehen, warum auch, wenn man das lila hektographierte Allerlei aus Bürokratie und Forschung so virtuos tätowieren und erotisch durchkreuzen kann!

Wenn das Geschriebene und das Gedruckte so mächtig bis zur Übermacht Raum beansprucht, ist das Zeichnen ein Antidot; wie ein unsichtbarer Handlauf begleitet es den Künstler "auf Schritt und Tritt" - Künstler eigenen Rechts.

Es sind "Gelegenheitszeichnungen" einer anderen Ordnung, die Klaus Heinrich auf das Blatt entlässt, es ist die Permanenz eines ebenso kindlich-instinktiven wie unbekümmerten Prozesses.

Derjenige, der hier zeichnet, ist ein Wiederholungstäter, er kann gar nicht anders, er kann nicht umhin. Ganz offenbar hat Klaus Heinrich sich einen unerschöpflichen Vorrat, ein privates Archaikum bewahrt - aus seiner vor-schriftlichen Kindheit. Oder anders gesagt, diese Kindheit lebt ganz eigensinnig fort, sie muss nicht eigens 'erinnert' werden, sie hat artistische Formen gefunden, in denen sie fortlebt. Unbekümmertheit ist der Modus, das Klima, das diese entlastende Tätigkeit verspricht - und garantiert.

Die Betrachter können nach Anregungen, Vorbildern, Übersetzungen aus dem großen Fundus der Moderne suchen - von Klee, immer wieder Picasso, Alechinsky, Max Ernst, Rouault, Masson und -, aber nie sind es Imitate.

Die Linie ist aus dem Strich geboren, nicht geboren, sie ist aus ihm entwickelt. Die zeichnende Hand hypnotisiert den Strich, überlistet ihn. Sie figuriert ihn. Der Strich widersetzt sich nur halb, ist ungehorsam, windet oder bläht sich, mutiert zum Punkt oder macht sich dicke: siehe "Schraffur".

Keine Farbe, nur das weiße oder monochrome Papier auf der einen und der Stift auf der anderen Seite sozusagen..., es kann Bleistift, Tinte oder Filzstift sein, eine diätetische Welt.

Die Linie - selbst wenn sie zögert, wenn die Hand, die sie zieht, zögert - springt ins Auge.