Flüchtlinge - Anders als
- ️Henriette Schroeder
- ️Mon Oct 09 2017
Wien. "Ich bin am Donnerstag in Wien angekommen und am Montag war ich schon in der Schule." Lächelnd fügt der junge Afghane hinzu: "In Englisch und Mathe war ich sehr gut Die Formeln konnte ich alle, nur die Textaufgaben waren ein wenig schwierig, weil ich kein Wort Deutsch verstand."
Als Asif Safdary 2008 in Wien ankommt, ist er 14 Jahre alt. Er hat eine monatelange Reise über Tausende Kilometer hinter sich, die ihn an den Rand der völligen physischen und psychischen Erschöpfung gebracht hat. Heute, neun Jahre später, nachdem er sein Bachelorstudium in IT Security an der FH Campus Wien erfolgreich beendet hat, arbeitet Safdary als IT Security Analyst, ist Botschafter des österreichischen Integrationsfonds, OSZE Sonderbeauftragter für Jugend und Sicherheit und Werbebeauftragter von Igasus, der Interessensgemeinschaft afghanischer SchülerInnen und Studenten.
Asif Safdary gehört der Ethnie der Hazara an, eine schiitische Minderheit im mehrheitlich sunnitischen Afghanistan, die seit jeher Verfolgung, Diskriminierung und Pogromen ausgesetzt sind. "Wir lebten in der Provinz Ghazni, im Osten des Landes, umgeben von Bergen und hinter den Bergen sind die Taliban. Wir waren umzingelt, lebten quasi in einem großen Gefängnis."
Asif Safdarys Traum war es zu studieren. Mathematik, Technik und Netzwerke sind seine Leidenschaft. Doch dem jungen Hazara war klar, dass es für ihn in Afghanistan keine Chance geben würde. An die österreichische Botschaft konnte er sich nicht wenden, da diese bereits 1981 in Kabul geschlossen wurde. "Der illegale Weg nach Europa war damals noch gefährlicher und kostete viel Geld," erzählt er. Das Geld des Vaters reicht für die Flucht. Mit dem ihm verbleibenden Ersparnissen kann er der Familie die Flucht nach Pakistan ermöglichen.
So macht sich Safdary als unbegleiteter Minderjähriger auf, um der täglichen Gewalt zu entfliehen und seinen Traum zu verwirklichen. "An der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei, waren wir drei Tage und zwei Nächte zu Fuß unterwegs. Schlepper vor uns, Schlepper hinter uns. Irgendwann konnten wir nicht mehr, einige sind zurückgeblieben. Da haben uns die Schlepper in einer Gruppe versammelt und einen der völlig Erschöpften vor unseren Augen erschossen. Es war ein Warnsignal: ‚Wenn Ihr aufgebt, dann erschießen wir Euch auch.‘"
Nach diesen "grauenhaften Erfahrungen" schafft es der 14-Jährige bis nach Wien. Nach acht Monaten Hauptschule spricht er fließend Deutsch. In Wien hatte sich Asif Safdary schnell eingelebt. "Ich will nicht verallgemeinern, aber die meisten unbegleiteten Minderjährigen leben nur noch selten nach traditionellen Werten und passen sich schnell an. Eher gibt es Diskussionen mit Familie und Bekannten, die noch in der alten Heimat leben."
Sein Vater, der selber gerne Medizin studiert hätte, wollte, dass sein ältester Sohn Medizin studiert. "Bei uns ist es so, was der Vater sagt, das passiert auch. Mein Vater lebt in Kabul und hatte früher auf dem Land eine Apotheke." Doch Safdary wagt es sich den Wünschen seines Vaters zu widersetzen und schreibt sich für IT an der HTL (Höhere Technische Lehranstalt) Ottakring ein. "Nachdem ich es ihm gestanden habe, sprach mein Vater zwei Monate nicht mit mir. Doch dann rief er mich an, entschuldigte sich und gratulierte mir zu meinem Entschluss."
Die HTL Ottakring war ein Wendepunkt in Asif Safdarys Leben. Mit einem Stipendium der "Start Stiftung" schafft er in fünf Jahren die Matura, studiert und macht bereits nach zwei Jahren den BSc. Inzwischen sei er nicht mehr so religiös wie ihn seine Eltern einst erzogen haben, er suche sich das Beste aus allen Religionen aus und entscheide zum Wohl seiner Mitmenschen, resümiert er. "Ich denke, die Werte, die so heiß diskutiert werden, sind überall ähnlich. Auch die Menschen in Afghanistan leben nach denselben Prinzipien, haben dieselben Hoffnungen wie Menschen in anderen Teilen der Welt." Nachdenklich sagt er noch: "Es müssen wirklich nicht alle Afghanen in Österreich einen ‚Wertekurs‘ besuchen."
Der 23-Jährige lebt ohne seine Familie in Wien. Seine Mutter, seine zwei Schwestern und ein Bruder haben in der Türkei Zuflucht und medizinische Behandlung gesucht, nachdem die Mutter und eine Schwester bei einem Anschlag auf Hazara 2013 in Pakistan schwer verletzt wurden. Bei dem Anschlag starben über 100 Menschen, darunter auch Verwandte von Safdary.
Mojtaba Tavakoli lebt seit zehn Jahren in Österreich. Er hat im September mit einem Marie Curie Stipendium der EU am Institute für Science and Technology in Klosterneuburg sein Doktorratsstudium in Neurowissenschaften begonnen und wird seine Doktorarbeit entweder über Neurogenerative Erkrankungen oder Neuroonkologie schreiben. Er sei schon als Kind ein offener, allen Themen gegenüber aufgeschlossener Mensch gewesen, erinnert sich der heute 23-Jährige. Von einem Wertewandel nach der Ankunft in Österreich will er nicht sprechen, lieber von Akkulturation. Selbstverständlich müssten Migranten die Gesetze einhalten, Kultur und Tradition respektieren. Das Gute solle man übernehmen und mit der eigenen Kultur und den eigenen Traditionen verknüpfen. Aber auch die Österreicher müssten ihren Teil leisten: "Sie müssen sich auch für ein besseres Zusammenleben mit den Afghanen einsetzen und es nicht immer nur von der anderen Seite verlangen. Wir alle, egal welcher Herkunft, müssen uns an die Zeit anpassen."
Die afghanische Community ist laut Tavakoli heterogen. Sie besteht aus Afghanen, die seit über 30 Jahren hier leben und völlig integriert sind, jenen, die 1995 gekommen sind und auf beiden Seiten engagiert sind und jenen, die seit 2010 in Österreich leben und noch ihren Platz in der österreichischen Gesellschaft suchen. Besonders die junge afghanische Generation fordert er dazu auf, sich in die Belange der österreichischen Zivilgesellschaft einzumischen. "Man darf nicht hoffnungslos sein, man darf nicht so tun, als könne man hier nichts verändern. Österreich ist auch unsere Heimat."
Die letzten Jahre, in denen sich der Ruf der Afghanen durch die kriminellen Taten einzelner sowie zunehmender Fremdenfeindlichkeit verschlechtert hat, haben Tavakoli dazu bewogen, die Community aufzufordern, sich öffentlich stärker von den kriminellen Vergehen zu distanzieren. "Es ist sehr schade, denn so prägt sich nur das negative Bild, das gewisse Medien auch noch schüren, ein, und es wird völlig übersehen, dass eine Generation hier und in Afghanistan herangewachsen ist, die sich für Bildung, Aufklärung und Frauenrechte einsetzt." Sein Appell: "Lasst uns davon träumen, in der Zukunft einen Minister oder eine Ministerin in der Regierung zu haben, die afghanische Wurzeln hat, und lasst uns davon träumen, dass eines Tages ein Mitglied dieser Community den Nobelpreis gewinnt."
Tavakoli ist nicht nur ein leidenschaftlicher Verfechter der Bildung, auch die Emanzipation der Frau liegt ihm besonders am Herzen. Frauenrechte in Österreich beschäftigen ihn auch: "Die Unterdrückung der Frau ist ja nicht nur ein afghanisches Phänomen, sondern ein weltweites. Frauen werden im Westen für die Wirtschaft instrumentalisiert. Auf jedem Produkt muss eine nackte Frau abgebildet sein, damit es sich verkauft. Das ist beschämend. Oder wie über eine Frauenquote debattiert wird: 50:50 in gewissen Positionen, das müsste doch selbstverständlich sein!"
Vor zehn Jahren verlassen der damals 13-jährige Tavakoli und sein 18-jähriger Bruder Ghazni. Seine Eltern, Gemüse- und Obstbauern, wollen ihre Kinder in die Schule schicken, aber da das Leben für die Hazara Familie immer bedrohlicher wird, bleibt ihnen nur dieser Ausweg. Sechs Monate sind sie unterwegs – zu Fuß, an die Unterseite von LKWs geklammert. Auf der Überfahrt über das Schwarze Meer, von der Türkei nach Griechenland, ertrinkt sein älterer Bruder, da das zweite Boot kentert.
Alleine in Österreich angekommen, wird Tavakoli nach Mödling in ein Flüchtlingsheim für Minderjährige verlegt. Auf eigene Initiative fragt er bei der Heimleitung nach, ob er Kontakt zu einer österreichischen Familie mit Kindern bekommen könne. Es klappt. Er wird von einem Paar mit zwei Söhnen quasi adoptiert. "Es war fantastisch, ich hatte jetzt auch eine eigene Familie. Genial." Die Familie unterstützt ihn beim Lernen, er wird Mitglied bei den Pfadfindern und er spielt Fußball. Durch den Kontakt mit österreichischen Jugendlichen lernt er die Sprache schnell. "Mir war klar, koste es, was es wolle, ich muss Deutsch lernen."
"Ich darf meine Meinung sagen, wir sind in Europa!"
In Ghazni half er seinen Eltern bei der Ernte, Wissenschaft war in seiner Kindheit kein Thema. Doch bald erkennt er, auch dank der Unterstützung seines Patenvaters, der Umweltwissenschaftler ist, dass er diesen Weg gehen will. Fast auf den Tag genau, zehn Jahre nach seiner Ankunft als unbegleiteter Minderjähriger, wird Tavakoli 2017 sein Doktoratsstudium beginnen. Doch trotz der Geborgenheit und der Hilfe, die er bekam, hatte er stets seine Familie vermisst. Der Kontakt zu ihr ist auf seiner Odyssee nach Europa abgebrochen.
Im Jahr 2009 passiert ein Wunder. Mojtaba Tavakoli hat afghanischen Freunden, die nach Quetta in Pakistan fuhren, Fotos mitgegeben. Dort, wo an die 600.000 Hazara im Exil leben, hat die Mutter eines Freundes diese in der Moschee herumgereicht – unter den Betenden ist seine Oma. Bis heute kann er sein Glück nicht fassen. Im Rahmen der Familienzusammenführung kommt die Familie 2010 nach Wien. "Den Tag, an dem sie in Schwechat ankamen, werde ich nie vergessen."
Des Öfteren wird Tavakoli mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die Aussicht auf Familienzusammenführung, Familien ermuntern würde, ihre minderjährigen Kinder nach Europa zu schicken. Er ist empört: "Niemand schickt seine Kinder freiwillig weg. Es geht ums nackte Überleben, vor allem für uns Hazara, aber auch für verfolgte Paschtunen und Tadschiken." Zusammen mit seinen Eltern kommen sein Bruder Mustafa, der 2014 – ein weiterer Schicksalsschlag – an einem Hirntumor stirbt, seine Schwestern Zahra und Fatima sowie die heute 22-jährige Sohela, die Physik studiert und als Bildungsberaterin bei der Diakonie und als Dolmetscherin arbeitet. Ein wenig musste sie die Familie schon überzeugen. Doch seit über drei Jahren wohnt Sohela alleine. Sie wollte selbstständig werden und nicht darauf warten, dass sie, wie es in der afghanischen Gesellschaft immer noch üblich ist, erst auszieht, wenn sie heiratet.
Sohela Tavakoli ist überzeugte Feministin. In Wien könne sie dies offen thematisieren und ausleben, sagt sie. "Ich kann mich gut erinnern, dass ich schon als kleines Mädchen mit Erwachsenen, vor allem mit Männern, über Gleichberechtigung und Ähnliches diskutiert habe."
Sie sei ein sehr religiöses Kind gewesen und habe, weil es ihr gefallen habe, bereits mit sechs angefangen zu fasten und zu beten, obwohl es erst ab dem neunten Lebensjahr Pflicht ist, erzählt sie. Als sie einige Stellen im Koran über Frauen liest, ändert sie radikal ihre Meinung. "Es kann ja nicht sein, dass eine Religion, die für alle Menschen da sein soll, Geschlechtergruppen anders behandelt. In allen heiligen Büchern sind Männer und Frauen nicht gleichgestellt. Wie können Frauen in gewissen Ländern religiös sein. Sie beten auf Arabisch, verstehen es nicht, glauben aber trotzdem daran."
Sohela, die in Pakistan in der Schule auch Arabisch gelernt hat, liest gewisse Stellen im Koran noch einmal im Original nach. Und: "Jetzt bin ich mir noch sicherer, dass ich nicht daran glauben kann." Inzwischen sei sie nicht mehr religiös, zumindest nicht im traditionell-monotheistischen Sinne, sagt sie. "Ich glaube an einen Gott, besser gesagt an eine Energie, die überall auf der Welt dieselbe ist. Wie man sie nennen mag – Gott, Allah, Jesus, Buddha - das ist eine persönliche Sache."
Ihre Eltern kennen ihre Einstellung, nur Details bespricht sie mit ihnen nicht. "Wissen und Bildung haben für Sohela Priorität – je mehr man über eine Sache weiß, desto toleranter und weltoffener würde man, daher würde es auch Mädchen und oft auch Buben, die nur in Koranschulen gehen dürfen, in Afghanistan verboten in die Schule zu gehen – "sie haben Angst, dass den Menschen die Augen geöffnet werden, und dass diese dann nicht mehr gehorsam sind. Aus einem anderen Grund tut man es ja nicht."
Ihr Credo: Religion und Staat müssen getrennt sein. Vor Kritik aus der afghanischen Community hat Sohela Tavakoli keine Angst: "Wenn ich über eine Sache informiert bin, dann spreche ich darüber. Warum auch nicht? Ich darf ja wohl meine Meinung sagen. Wir sind hier in Europa."