Film "Precious": Die dicke Telefonistin, die ein Star wurde - WELT
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Film "Precious"
Die dicke Telefonistin, die ein Star wurde
Veröffentlicht am 14.12.2009Lesedauer: 4 Minuten
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Gabourey Sidibe ist 168 Kilo schwer und eigentlich Telefonistin in einem Callcenter in Harlem. Doch dann wurde sie für den Film "Precious" entdeckt. Ihre Mutter ermutigte sie zu einem Vorsprechen. Unter 500 Mädchen wurde sie ausgewählt. Jetzt kann sie sich sogar Hoffnungen auf den Oscar machen
Fänden wir Claireece Jones, die sich Precious, „kostbar“, nennt, auf einem Transatlantikflug auf dem Sitz neben uns quellend vor, wir verlangten vom Kabinenpersonal mit gesenkter Stimme einen anderen Platz. Ihre 168 Kilo wallender Fettleibigkeit rücken jedem Nebenmann schwer auf den Leib, sie bedeuten Freiheitsberaubung für Precious selbst.
Hörten wir Precious’ Geschichte, das Martyrium einer 16 Jahre alten Fast-Analphabetin, im schwarzen Getto von einem Vater vergewaltigt, der ihr zwei Kinder und den HI-Virus anhängt, von einer Mutter missbraucht, die ihr mit Schlägen und Verwünschungen den letzten Stolz bricht – wir wären empört, wütend, zu Mitleidstränen gerührt. Danach kämpften wir umso flehender für die Flucht zu einem anderen Sitz.
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Gabourey Sidibe, eine 26 Jahre alte Telefonistin in einem Harlemer Callcenter, für ihre fabelhafte Amateur-Schauspielkunst in der Rolle der „Precious“ in dem gleichnamigen Film von Lee Daniels einen Oscar bekommt.
Der Film nach dem Roman „Push“ der New Yorker Autorin Sapphire, der in den Neunzigerjahren ein Schlüsselroman für schwarze Jugendliche wurde, hat bei einer hingerissenen Kritik wie an den Kinokassen (mit bisher 37 Millionen Dollar) alle Erwartungen übertroffen.
Kritiker rühmen den Mut des schwarzen Regisseurs, der als schwuler Junge im Getto unter Hänseleien litt, hässliche Wahrheiten ohne die Weichzeichnung zu zeigen, die man von den Filmen weißer Regisseure über das Gettoleben kennt.
Sidibe (26) swingt durch Talkshows, plaudert klug und ironiebegabt und lächelt cool von Magazinen. Sie hat Precious ihren Körper geliehen und ihre Einfühlung. Erränge Sidibe einen Oscar, es wäre der erste Preis für eine dicke, hässliche Frau seit Hattie McDaniel 1940, die für ihre umwerfende Darstellung als treue Haussklavin in „Vom Winde verweht“ als erste Schwarze überhaupt einen Academy Award für die „Beste Nebendarstellerin“ erhielt.
Lee Daniels hatte sich in den Fast-Food-Läden von Chicago, Los Angeles und New York auf die Suche nach seiner Precious gemacht und nahezu 500 Mädchen getestet. Den Anstoß, bei Daniels vorzusprechen, gab Sidibes Mutter Alice Tan Ridley, die sich ihr Geld mit dem Singen in U-Bahnhöfen um den Times Square verdient.
Es heißt, sie habe ihre „Gabby“ Tanzen und Singen gelehrt und sie ermutigt, an ihr Talent zu glauben. Mit vollem Recht. Während Sidibes Precious maulfaul, stoisch, mit unbegreiflicher Würde die inzestuösen Vergewaltigungen und den (Selbst-)Hass ihrer Mutter – atemraubend authentisch, beklemmend, Mo’Nique spielt sie Oscar-würdig – erträgt, schlägt das Publikum sich immer mehr auf ihre Seite.
Wer dicht am Wasser gebaut ist, wird Anfälle von Rührung niederkämpfen müssen: wenn sie liebevoll zu ihrem Downsyndrom-Baby spricht; wenn sie, langsam Vertrauen fassend, die Achtung ihrer Lehrerin und Klassenkameraden in einer Sonderschule für schwer erziehbare Jugendliche gewinnt; wenn sie die taffe Sozialarbeiterin (in einer fabelhaft unterspielten Rolle Mariah Carey) zum Weinen bringt.
Einhellig ist das Lob für „Precious“ nur unter weißen Kritikern und im weißen Publikum. Afroamerikaner teilen sich in zwei Schulen: Die einen rühmen Daniels Blick auf das Gettoleben als hart und authentisch, es gelinge ihm eine neue, bisher nie gekannte Verunsicherung der Schwarzen, die gewöhnlich routiniert mit den Filmstereotypen ihrer Rasse umgehen können. Die anderen bestreiten nicht die Wahrheit, aber sie empfinden tiefes Unbehagen wie vor einem Voyeur, das Leid vor einem weißen Publikum so brutal einzugestehen.
Gerade die Verweigerung eines zuckrigen Happy End, halten andere dagegen, mache „Precious“ stark und lebensklug. Selbsthass und Selbstzerfleischung der Schwarzen seien real. Die fluchende Sozialhilfe-Mutter, der lange abgehauene Vater, der nur ab und zu zur Vergewaltigung seiner Tochter auftaucht, endlich Precious selbst, die in Trauer einen ganzen Eimer von Hähnchenteilen in sich hineinstopft und ihre Gefühle im Gefängnis von Sprachlosigkeit hält – sie alle leben oder sind doch glaubwürdig montiert aus Hunderten Fällen aus der Praxis der früheren Sozialarbeiterin Sapphire.
Jede Schwarze, sagen Mutige, trage ein Stück von Precious in sich. Von „Elendspornografie“ und „Fantasien eines Ku-Klux-Klan-Mannes“ spricht aufgebracht der schwarze Kritiker Armond White. „Precious“ sei schlechte Kunst und eine böse Erinnerung daran, dass Kunst und Politik untrennbar seien.
Auf Festivals in aller Welt hat „Precious“ Aufsehen erregt; es ist ein Denkmal für alle, die wir nicht sehen wollen, weil ihr Elend uns ohnmächtig macht und zornig. Gabourey „Gabby“ Sidibe ist ein Star, aber sie wird nicht von Agenten umschwärmt. Wer schriebe ihr die nächste Rolle auf diesen Leib?