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Theologe ohne Gott

Veröffentlicht am 17.04.2010Lesedauer: 5 Minuten

Rolf Hosfeld schreibt eine faszinierende Ideen-Biografie über Karl Marx und dessen Werke

Eine große Wirtschaftskrise bricht aus im Bereich der Spekulation, führt dann zum (Beinahe-)Kollaps des Bankensystems und zur Zerrüttung des Kreditmarkts, bevor sie sich der Produktion selbst bemächtigt: So erleben wir es gerade, so hat es Karl Marx bereits vor 150 Jahren beschrieben. Kein Zweifel, er verstand etwas von Ökonomie. Während liberale Wirtschaftstheoretiker von der wunderbaren Ausgleichswirkung des Marktes schwärmen, sind bei Marx Einsichten über die Schwankungen, Überhitzungen und gewaltsamen Korrekturen des Marktgeschehens zu gewinnen.

Aber soll man deshalb gleich wieder vom Sozialismus träumen? Gegen solche aktuellen Versuchungen kommt das kluge Marx-Buch von Rolf Hosfeld gerade recht. Eine Lebensgeschichte ist es nur am Rand; vielmehr eine faszinierende Ideen-Biografie, die vor allem durch ihre aufschlussreichen philosophischen und historischen Kontexte überzeugt. Es zeigt sich, wie stark die Marxschen Schriften auf aktuelle Debatten und historische Situationen bezogen sind.

Eindrucksvoll vergegenwärtigt Hosfeld die zugleich verheißungsvolle und unheilschwangere Atmosphäre, in der Marx lebte und dachte. Als er 1836 zum Studium nach Berlin ging, dauerte die Fahrt von der Mosel an die Spree noch eine Woche - Postkutschentempo. Dann erlebte er die große Verwandlung der Welt, angetrieben von Dampfmaschinen und Profitgier. Auch der Philosoph der Verelendung kam aus dem Staunen über die kapitalistischen Wunder nicht heraus: "Erst die Bourgeoisie hatte bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hatte ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen", heißt es im "Kommunistischen Manifest". Dass die Philosophie sich mit der Wirklichkeit neu ins Verhältnis setzten musste, lag auch daran, dass diese Wirklichkeit so lautstark wie nie auf sich aufmerksam machte.

Ohne die permanente Krisenerwartung, die bei Hosfeld als Charakteristikum des vermeintlich "ruhigen" 19. Jahrhunderts deutlich wird, ist Marx nicht zu begreifen. "Paris in Blut schwimmend, die Insurrektion entwickelt zur größten Revolution, die je stattgefunden..." - so jubelte er im Juni 1948 in der "Neuen Rheinischen Zeitung". Bald darauf forderte er den großen Krieg gegen Russland, diesen Hort der Reaktion. Für 1849 prognostizierte er den Weltenbrand - Krieg von Preußen bis Ostindien und Afrika, Weltkrieg gegen England. Schlechte Nachrichten sind gute für Revolutionäre, jede Zuspitzung der Lage wird begrüßt. Ob der Krimkrieg mit seinen Materialschlachten oder der amerikanische Bürgerkrieg mit seinen weltweiten Schockwellen: Wenn die Zustände ins Stolpern gerieten, arbeitete Marx "toll die Nächte durch". So auch in der Zeit der Pariser Kommune: In Eile schrieb er einen Nekrolog auf das Drama mit mehreren zehntausend Toten, "Der Bürgerkrieg in Frankreich", sein einziger Bestseller zu Lebzeiten. "Das Kapital" dagegen verkaufte sich nur schleppend.

Ungeachtet der alttestamentarischen Wucht, mit der er den Untergang der bestehenden Gesellschaft prophezeite, verstand Marx sich nicht als Moralist, der sich über Exzesse der Gier empört. Nur als "Personifikation des Kapitals" sei der Ausbeuter für die Analyse interessant; auch er sei nur eine Schachfigur, die der Logik des Profits folgen müsse. Als Darwin der Ökonomie wollte Marx die "Naturgesetze der kapitalistischen Produktion" aufdecken und das "authentische Sprachrohr des historischen Willens" sein. Aber bei allem "wissenschaftlichen" Materialismus war er doch zugleich ein Theologe ohne Gott, der seine Heilserwartungen dem Geschichtsverlauf anvertraute. Dass der Umsturz des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ein Opfergang sein würde, war ihm bewusst; es opferte sich leichter, wenn sich die "objektive" Notwendigkeit des Geschehens beweisen ließ.

Über die Gesellschaft der Zukunft machte sich Marx dabei kaum Gedanken. Seit je war die Menschheit verbissen im Kampf der Klassen und Interessen - auch der Frieden nichts als verdeckter Bürgerkrieg, erbitterte Konkurrenz, Vernichtung der einen durch die anderen. Wie aber sollte sich nach Jahrtausenden der Gewalt der ewige gesellschaftliche Frieden überhaupt denken lassen? Es mutet merkwürdig an, dass der scharfsichtige Analytiker des Kapitalismus die systemischen Widersprüche der kommunistischen Gesellschaft überhaupt nicht im Blick hatte. Hinzu kommt eine andere Schwäche. Hosfeld attestiert Marx "Unverständnis gegenüber komplexen politischen Institutionen". Der materialistische Reduktionismus könne im Staat nur die Form sehen, "in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre Interessen geltend machen".

Bei vielen gilt Marx immer noch als eine Art "Idealist", dessen prinzipiell gute Ideen erst verdorben wurden durch den realen Sozialismus. Eigentlich ist der Brutalismus schon in Marx' Denkweise aber unübersehbar: in der unerbittlichen Lakonik seiner Formulierungen, in der "zischenden Schärfe" (Golo Mann) seiner dialektischen Pointen. Er übertrug die Polemik der zeitgenössischen Literaturfehden aufs politische Feld. Marx setzte durchaus auf die "schöpferische Rolle der Gewalt in der Geschichte".

Von Revolution war damals viel die Rede; Marx und Engels hielten kein Monopol. Detailliert beschreibt Hosfeld die Strategien, mit denen sie den Kurswert ihrer theoretischen Ware hoch zu halten versuchten auf dem von Überangebot bestimmten Markt der radikalen Ideengeber. In erbitterter Konkurrenz standen sie zu den Arbeiterführern, die soziale Reformen anstrebten. "Wirklichkeit" war für Marx ein charismatischer Begriff; der wirklichen Arbeiterbewegung aber warf er von der Warte seines theoretischen Elfenbeinturms die pragmatische Aufweichung der revolutionären Programmatik vor. Gehässig verhielt er sich insbesondere gegenüber dem auch als Buchautor und Gesellschaftsmensch reüssierenden Ferdinand Lassalle, dessen politische Einschätzungen oft realistischer waren. Nach dem Tod Lassalles lehnte er es ab, die Präsidentschaft des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu übernehmen. Mit dem "königlich-preußischen Regierungssozialismus" wollte er nichts zu tun haben. Der preußisch-deutsche Sieg über Frankreich 1871 erfüllte ihn dennoch mit Genugtuung - nahm er doch an, dass damit auch seine Lehre das Übergewicht über die anarchistische Sozialismustheorie Proudhons bekäme.

Hosfelds eleganter Essay ist keine leichte Lektüre; philosophische Grundkenntnisse werden vorausgesetzt. Der Autor scheidet die bis heute relevanten kritischen Einsichten von den Irrtümern, Fehlprognosen und fatalen Rezepten wie der "Diktatur des Proletariats". Dabei will er gar nicht ausschließen, dass es vielleicht gerade der eschatologische Zug seines Denkens war, der Marx hellsichtig machte für die Ökonomie der Moderne und die "Widersprüche" des Kapitalismus.

Rolf Hosfeld: Die Geister, die er rief. Piper, München. 260 S., 19,95 Euro.