Karma aus dem Blechnapf
- ️Wolf Alexander Hanisch
- ️Thu Sep 28 2006
Wer in Mumbai nach Ordnung sucht, muss sich an die Fersen der Dabbawallahs heften. Niemand beherrscht das Chaos besser als die Kuriere, die 200.000 indischen Angestellten täglich das Essen ihrer Frauen liefern
28. September 2006 Quelle: DIE ZEIT, 28.09.2006 Nr. 40
Was für ein Duft. Ein einziges olfaktorisches Rätsel. So geheimnisvoll und köstlich, dass man den ganzen Tag in Manjiri Mukherjees Küche verbringen möchte. Um einfach dazusitzen und zu schnuppern. Es ist noch früh am Morgen, als die Frau im goldenen Sari ihrem Mann das Mittagessen kocht. Die Deckel klappern leise, durch die Fenster der Wohnung im Mumbaier Stadtteil Andheri fällt mangofarbenes Licht. Niemals würde ihr Mann in der Arbeitspause etwas anderes verzehren als ihre Masalas-Gerichte, sagt Frau Mukherjee. "Essen muss mit Hingabe zubereitet werden, denn nur dann enthält es Liebe. Und nur Essen, das Liebe enthält, ist gesund und spendet Kraft. Die Speisen von Fremden sind ohne Liebe." Manjiri Mukherjee hält kurz inne und lächelt. Dann schüttet sie Currys, Linsenpürees und Chutneys in fünf Metallschalen, stapelt sie ineinander und verschließt die Büchse mit einer Klammer.
In diesem Moment klopft es an der Tür. Um punkt neun Uhr, so wie jeden Wochentag seit 39 Jahren. Der Mann heißt Dhondiba Chaudhari. Er trägt eine wadenlange weiße Hose, ein weißes Hemd und ein weißes Nehru-Schiffchen auf dem Kopf. "Lavkar, lavkar", ruft er, "schnell, schnell", und Frau Mukherjee beeilt sich. Sie reicht ihm die Aluminiumdose, und einen Augenblick später hört man nur noch Dhondibas Lederschlappen hastig über den Steinboden klatschen. Er ist spät dran. Vor der Haustür befestigt er den Behälter an seinem Fahrrad, an dem schon ein Dutzend Büchsen in glitzernden Trauben hängt, und fährt zum Bahnhof Andheri. Hier trifft er weitere Männer seiner Zunft. Alle in klinisches Weiß gewandet, sortieren sie ein Meer von Blechzylindern und verstauen sie in lange Kästen. Jede Minute kommen mehr als 50 neue Dosen dazu, strömen weitere Mützenmänner auf den Bahnsteig, der jetzt aussieht wie der Sammelplatz eines Küchenbataillons.
Die Szene ereignet sich gleichzeitig in vielen Bahnhöfen. Denn Dhondiba Chaudhari ist einer von 5000 Dabbawallahs in Mumbai, das bis 1995 Bombay hieß. Er und seine Kollegen transportieren Essen von den Wohngegenden der Mittelschicht im Norden in das Geschäftszentrum im Süden. Jeden Tag machen sich fast 200000 Henkelmänner bis zu 70 Kilometer weit auf die Reise. Dabei durchlaufen sie drei oder vier Übergabestationen, an denen immer wieder andere Dabbawallahs die Fracht übernehmen. Ein Code aus Ziffern, Farben und Buchstaben auf den Dosen sorgt dafür, dass sie nicht verloren gehen und Kunden wie Daljit Mukherjee ihre Hausmannskost bekommen.
Gerade einmal fünf Euro im Monat kostet den Vegetarier der Service, ohne den er mittags aufs Essen verzichten würde. Damit ist er nicht heikler als viele andere in Mumbai. Denn in der Stadt mit ihren 16 Millionen Einwohnern leben unzählige Ethnien und Glaubensgemeinschaften. Und jede hat ihre eigenen kulinarischen Neigungen und religiösen Essensvorschriften. Manche lieben es höllisch scharf, manche schwören auf Kokosmilch in den Gerichten, manche verwenden nur Erdnussöl zum Kochen. Für Hindus ist Rind tabu, für Muslime Schwein, und ein Dschaina würde in einem christlichen Haushalt von Fleischessern noch nicht einmal ein Glas Wasser annehmen. Es gibt Parsen und Juden, Buddhisten und Sikhs, und das Kastensystem mag zwar im öffentlichen Leben kaum noch eine Rolle spielen – die Furcht der Inder vor Mahlzeiten, die von den falschen Händen zubereitet wurden, prägt es bis heute.
"Die Arbeit ist uns heilig. Es gibt nichts Wichtigeres"
Seit 120 Jahren liefern die Dabbawallahs Metallbüchsen mit Essen, die Dabbas. Fast alle von ihnen stammen aus sechs Dörfern bei Poone, vier Autostunden südöstlich von Mumbai. Sie sprechen den gleichen Dialekt, sind miteinander verwandt oder verschwägert und gehören derselben hinduistischen Reformsekte an. Organisiert in Kooperativen von 20 bis 30 Mann, werfen sie das Geld in einen Topf und teilen es am Monatsende. Etwa 100 Euro erhält dann jeder. Immerhin das Dreifache des Hungerlohns vieler Straßenbauarbeiter. Damit sich die Gruppen nicht im Konkurrenzkampf aufreiben, gibt es den Nutan Mumbai Tiffin Box Suppliers Charity Trust, den NMTBSCT. Für 30 Cent Monatsbeitrag legt die Interessenvertretung die Preise fest, gewährt Gebietsschutz und vergibt Kredite. Und sie verhängt Sanktionen: Wer zu Kunden unfreundlich ist, wer im Dienst trinkt oder raucht, wer die werbewirksame Kappe nicht trägt, muss Strafen zahlen.
An der Spitze des NMTBSCT stehen Präsident Raghunath Medge und Sekretär Gangaram Laxman Talekar, ein kleiner Mann mit violett getönter Pilotenbrille. Seine Mütze leuchtet hell wie Zitroneneis, als er ins Halbdunkel seines winzigen Büros bittet. An der Wand hängt ein Foto, das Talekar zusammen mit Prinz Charles zeigt. Der britische Thronfolger ist ein Verehrer der Dabbawallahs. Als er sie vor drei Jahren besuchte, musste er seine Visite mit ihrem Terminplan abstimmen. "Essen zu liefern erzeugt gutes Karma", erklärt Talekar das Pflichtbewusstsein seiner Kollegen. "Deswegen ist uns die Arbeit heilig. Es gibt nichts Wichtigeres. Noch nicht einmal die Familie", sagt der 62-Jährige und lässt seine Hände wie zwei Papierflieger über den Tisch gleiten. Das macht er immer, wenn es ihm ernst ist. Und wenn er den einzigen Satz sagt, den er auf Englisch beherrscht. Es ist sein Lieblingssatz: "Error is horror."