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Das Übermaß aller Dinge

  • ️Wolf Alexander Hanisch
  • ️Thu Oct 19 2006

In Shanghai tragen die internationalen Hotelketten ihren Machtkampf aus – mit den besten Küchenchefs, den teuersten Fuhrparks, den schönsten Begrüßungsdamen.

19. Oktober 2006 Quelle: DIE ZEIT, 19.10.2006 Nr. 43

Es sind nicht die Cocktails, die in der Jade-on-36-Bar des Shangri-La-Hotels betrunken machen. Es ist der Blick durch die Glaswände. Diese Aussicht auf ein außer Rand und Band geratenes Beleuchtungstheater. Dieses 150 Meter hohe Schweben im Neonrausch einer endlosen Wolkenkratzerbrandung. Stundenlang kann man hier sitzen und schauen und staunen über die nichts als elektrische Nacht von Shanghai. Und jetzt leuchtet auch noch das Mobiltelefon von Alain Brière. Eine SMS. Das Forbes Magazine habe gerade das Shangri-La zum besten Hotel der Stadt gewählt, meldet das Display. Der nervöse Marketingdirektor von Shanghais größter Herberge rutscht auf die Stuhlkante. Lächelnd reicht er seinem General Manager das Handy. Der heißt John Rice und wirkt so jungenhaft verschmitzt, als hätte sich Tom Sawyer in einen Maßanzug geworfen. Natürlich lächelt auch er. Alain und John heben ihre Gläser und zwinkern sich zu. Zufriedene Männer, die sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort wähnen. "This is the place to be", sagt der Hotelboss mit der ganzen Kraft seines australischen Akzents. "Definitely."

Wie kaum an einem anderen Ort lässt sich in Shanghai der Schöpfungsakt einer Stadt aus sich selbst erleben. Nachdem der damalige Ministerpräsident Deng Xiaoping Shanghai 1990 zur Sonderwirtschaftszone erklärt hat, ist Chinas größte Stadt das Symbol für die Wiedergeburt des bevölkerungsreichsten Landes der Erde. Und für seinen Traum von Größe. Mitte der neunziger Jahre soll hier ein Drittel aller Hochkräne der Welt im Einsatz gewesen sein. An jedem Tag fielen 30000 Tonnen Bauschutt an. Und es hört nicht auf. Unentwegt erfindet sich die Megalopolis neu. Gegenwärtig gibt es fast 6000 Hochhäuser in Shanghai – und 21000 Baustellen. Auf ihnen hämmern und schweißen rund um die Uhr drei Millionen Wanderarbeiter. Sie sind das rechtlose Treibgut einer neuen, gnadenlos kapitalistischen Revolution, die Shanghai zur Stadt der Zukunft machen soll.

Das Shangri-La war 1998 der Pionier unter den Hotels in Pudong, jener irrwitzigen Reißbrettstadt am Ostufer des Huangpu, wo sich vor gerade einmal 15 Jahren nichts als ödes Brachland erstreckte. Heute sieht Pudong mit der Comicrakete des Oriental Perl TV Tower und dem Gebalze seiner Wolkenkratzer aus wie Donald Ducks Traum von der Zukunft. Hier findet 2010 der Hauptteil der Expo statt, mit 200 Teilnehmernationen soll es die größte Weltausstellung aller Zeiten werden. 65 Millionen Besucher werden erwartet. "Eine wunderbare Herausforderung", findet John Rice. Sein Hongkonger Konzern wird darum 2009 in Pudong ein weiteres Hotel mit 820 Zimmern und 22000 Quadratmetern Veranstaltungsfläche fertig gestellt haben. Es wird neben dem Shanghai New International Exhibition Centre stehen, dem dann größten Ausstellungszentrum Asiens. Und viele weitere Hotels sind dabei. In Sichtweite des Shangri-La ziehen derzeit vier Luxusherbergen ihre Türme hoch, darunter Ritz-Carlton und Four Seasons.

Pro Jahr entstehen in Shanghai rund 6000 zusätzliche Hotelbetten. Das sind mehr, als Dortmund besitzt. Jedes zweite entfällt auf das Fünf-Sterne-Segment, das ein knappes Viertel der gesamten Kapazität bereitstellt. 29 Luxusunterkünfte gibt es schon heute unter Shanghais 354 Hotels, und allein in den nächsten anderthalb Jahren werden sechs dazukommen. Dass in ihnen 2005 zum ersten Mal weniger Gäste übernachteten als im Vorjahr, schreckt Männer wie John Rice wenig. In seinem Hotel sind durchschnittlich 90 von 100 Betten belegt, die Auslastung der First-Class-Häuser insgesamt liegt immerhin bei 75 Prozent. Und die Zimmerpreise klettern weiter. Dass man die Sogwirkung der Expo überschätzen könnte, ist ein Gedanke, der Shanghais Hotelmanager so wenig interessiert wie Spieler auf der Siegerstraße die Mahnungen ihres Über-Ich.

Die Architekten bauen fast ohne Auflagen

Shanghais Hotelszene vibriert vor Tatendrang. Dabei ist die Stadt nicht für Touristen gemacht. Sehenswürdigkeiten gibt es wenige. Unter siebenstöckigen Autobahnkreuzen macht ein bestialisches Verkehrschaos Jagd auf Flaneure, die in Imbissketten und triviale Shopping-Malls fliehen. Andere Zufluchtsorte gibt es kaum. Und um Taxi zu fahren, muss man sich als Ausländer mit Adressen in chinesischer Schrift bewaffnen. Es hilft nichts: In der 18-Millionen-Metropole geht es nicht um Menschen. Es geht um die Inszenierung des Fortschritts. Und ums Geschäft. Das Wirtschaftswachstum der Stadt ist seit einer Dekade zweistellig, keine lockt mehr Kapital aus dem Ausland an. Und das, was in Amerika die Golfplätze, sind in Shanghai die Hotels: jene Orte, in denen die Verträge ausgehandelt werden. Immer wieder kann man dort beobachten, wie westliche Geschäftsreisende aus den separaten Bars schleichen und zerknirscht an ihren Zigaretten saugen. Dann knipsen sie wieder ihr Lächeln an und kehren zurück in den Clinch der Kulturen.

"Geld machen, Geld ausgeben, sein Gesicht wahren – das liegt uns im Blut", sagt eine Angestellte des Regal International East Asia Hotel über ihre chinesischen Landsleute, die fast über Nacht vom grauen Reich des Mangels in eine Welt des Luxus und der Statussymbole katapultiert wurden. Es ist eine verwirrende Welt. "Brand is quality" lautet ihr Axiom, das nicht zuletzt für die Hotelwahl gilt. Ihm müssen auch Geschäftspartner folgen, wenn sie ernst genommen werden wollen. Darum geben in Shanghai internationale Ketten mit goldgelackter Fünf-Sterne-Noblesse den Ton an, nicht Design- oder Boutiquehotels. Und tatsächlich passen ihre Lobbys und Pianobars in ihrer distinguierten Entrücktheit perfekt zu einer Stadt, die keinem Stilprinzip folgen mag. Die Architekten bauen hier fast ohne Auflagen. Doch ihre Luxushotels wirken so atemberaubend wie austauschbar.