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35 Jahre Mauerfall: Unsere verborgene Superkraft

  • ️Andrea Backhaus
  • ️Sat Nov 09 2024

Der Mauerfall befreite uns vom DDR-Regime, aber die Ausgrenzungen und Brüche endeten damit nicht. Die Erfahrungen können uns heute gegen die Menschenfeindlichkeit helfen.

9. November 2024, 17:57 Uhr

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35 Jahre Mauerfall: Ihr Triumph: Zur Montagsdemo in Leipzig am 16. Oktober 1989 kamen 160.000 Menschen.
Ihr Triumph: Zur Montagsdemo in Leipzig am 16. Oktober 1989 kamen 160.000 Menschen. © Wolfgang Schmidt/​epd-bild

Zwischen Kyjiw und Rostock liegen mehr als 1.000 Kilometer, doch an einem Novemberabend vor zwei Jahren fühlte ich mich meiner Geburtsstadt auf einmal ganz nah. An jenem Abend saß ich nach einer langen Recherche in einem geschäftigen Café im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt. Ich überflog die Speisekarte und blieb an einer Abbildung hängen: halbmondförmige Teigtaschen, Warenyky, in einer roten Flüssigkeit, darin schwammen Kirschen. Ich musste grinsen. Kirschsuppe. Leicht abgewandelt – unförmige Mehlklunker statt geschmeidige Warenyky – war das mein Leibgericht in der DDR. Irre, dachte ich, da muss ich bis nach Kyjiw reisen, um ein Relikt meiner Kindheit wiederzufinden.

Mir wurde klar, wie sehr ich nach der Wende damit beschäftigt gewesen war, die Charakteristika meiner Ostbiografie abzuschütteln: den burschikosen Haarschnitt, den Mecklenburger Akzent, die unprätentiösen Rezepte meiner Mutter. Doch vergessen hatte ich sie nie.

Ich weiß, es wurde viel geredet und geschrieben über das Seelenleben der Ostdeutschen in diesem Jahr. Darüber, wie sich die AfD-Wahlergebnisse und die im Osten weit verbreitete Ablehnung von Geflüchteten verstehen lassen. Aber ich bin nach all den Jahren und all den Erklärungen noch immer erstaunt über die Feindseligkeit der Ostdeutschen. Und auch über die Nachsicht, mit der diese Feindseligkeit hingenommen und gedeutet wird. Als wäre sie eine zwangsläufige biografische Folge.

Und ich frage mich jetzt, zum Tag des Mauerfalls, ob auch mein Verhältnis zur Kirschsuppe etwas damit zu tun haben könnte.

Eigentlich sollten sich Ostdeutsche mit den neuen Fluchtgeschichten besonders identifizieren können. Sie wissen, wie verstörend es ist, vom Staat unterdrückt zu werden. Und wie schwierig es ist, dem zu entkommen. Wie viel Mühe es kostet, sich in einem neuen System zurechtzufinden. Wie viel beim Übergang ins neue Leben vom alten Ich verloren geht. Mir drängen sich diese Parallelen geradezu auf, nicht nur jetzt, am Jahrestag des Mauerfalls.

Ich wurde in den Achtzigern in Rostock geboren und war ein Kind, als die Mauer fiel. Ich hatte schon als Teenagerin und Studentin die Freiheit, zu reisen, durch Afrika, Asien und den Nahen Osten. Ich konnte in den USA studieren und an Orten wie Tokio und Johannesburg Freundschaften schließen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, ob ich protestiert hätte, ob ich zu fliehen versucht oder mich doch irgendwie arrangiert hätte. Aber mein Leben wäre in jedem Fall anders verlaufen, wenn nicht Menschen wie meine Eltern eine friedliche Revolution begonnen und eine brutale Diktatur beendet hätten.

Die Wende hat mir ein Leben in Freiheit ermöglicht, auch wenn die Umbruchszeit nicht einfach war. Viele Ostdeutsche blickten sorgenvoll in eine ungewisse Zukunft, auch meine Eltern. Mein Vater erzählte mir kürzlich, dass er damals oft nachts wach lag und sich fragte, ob er für uns Kinder sorgen könnte. Ob das, was er und meine Mutter sich erarbeitet hatten, nun, im wiedervereinten Deutschland, wertlos sein würde. Die Ausbildungen, die Abschlüsse, die Ostmark. Doch erst mal war er froh, dass die DDR nicht mehr existierte.

Zum Verhör mitgenommen

Meine Eltern gehörten in der DDR zu den Oppositionellen. Vor allem mein Vater hielt sich mit seiner Kritik am Regime nicht zurück. Ihm missfiel die Menschenfeindlichkeit des Staates, der alles und jeden unter Generalverdacht stellte. In dem Männer und Frauen selbst Angehörige verrieten, wenn die nicht auf Linie waren. Als Student in Dresden wurde mein Vater wegen seiner Kritik mal fast von einem Stasispitzel zum Verhör mitgenommen. Nach kurzem Gerangel konnte mein Vater weglaufen. Als er später in Rostock beim Fernmeldebauamt arbeitete, drohte ihm sein Vorgesetzter: Wenn er nicht den Kontakt zu den Verwandten im Westen abbreche, würden Konsequenzen folgen. Mein Vater ignorierte die Drohung – und verlor in der Folge seine gute Position. In seiner neuen Stelle, beim Fernmeldeamt, wurde er von Kollegen verleumdet und als Dieb denunziert.

Auch meine Mutter bekam zu spüren, was es hieß, sich dem Willen der Partei zu widersetzen. Als Lehrerin ignorierte sie die Vorgabe, ihren Schülern Propaganda einzutrichtern. Nach den Ferien sprach sie mit den Kindern über Ballspiele am Strand, statt den Sozialismus zu loben. Dafür wurde sie von der Schulleitung gerügt.