Eishockey in der DDR: Die kleinste Liga der Welt
- ️Christoph Farkas
- ️Tue Dec 29 2015
Eine Liga, zwei Teams: In der DDR spielten Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser die Eishockey-Meisterschaft unter sich aus. Die Geschichte einer unendlichen Begegnung.
29. Dezember 2015, 17:07 Uhr
150 Kilometer sind es von Berlin nach Weißwasser. Ein Reisebus rauscht durch die DDR, von der Hauptstadt in die Lausitz. Der Fahrer kennt die Strecke im Schlaf, so oft ist er sie in den letzten Jahren gefahren. Er fährt zufriedene Männer durch die Nacht: Die Eishockeymannschaft von Dynamo Weißwasser hat am Abend Dynamo Berlin 4:3 besiegt. Sie spielten unkomplizierter und konterten stark, wird die Zeitung am nächsten Tag schreiben.
Es ist der vierte Sieg im vierten Spiel der Saison 1989/90. Berlin ist für Weißwasser nicht irgendein Rivale in der DDR-Oberliga. Die Berliner sind ihr ewiger Gegner, ihr einziger. Weißwasser-Berlin, Berlin-Weißwasser. So geht es seit zwanzig Jahren.
Heute aber, am Tag des 4:3-Sieges, ist etwas anders. Auto um Auto zieht auf der Gegenfahrbahn vorbei, der ganze Südosten scheint unterwegs nach Berlin zu sein. Schließlich schaltet einer das Radio an: Die Mauer ist weg. Die Spieler beginnen zu ahnen, dass diese Nachricht nicht nur das Ende eines Staates bedeutet. Es ist auch das Ende des zwanzigjährigen Zweikampfes. Ihres Zweikampfes mit Dynamo Berlin.
Der Erste ist Vorletzter
Zwei Eishockeymannschaften, eine Liga – Dynamo und Dynamo spielten seit 1970 Jahr für Jahr den Meister unter sich aus. Mal sechs Spiele lang, mal acht, mal zehn, mal zwölf. Der Erste ist Vorletzter, der Letzte bekommt eine Silbermedaille. In manchen Jahren spielten sie neben der Meisterschaft auch noch einen Pokalwettbewerb. Das alles klingt sehr danach, wie sich viele die DDR heute vorstellen: Ein bisschen zum Schmunzeln, ein bisschen zum Kopfschütteln.
Doch so bizarr ist das vielleicht gar nicht. Wer eine Liga spielt, will Meister werden. Egal, ob sie aus achtzehn, acht oder zwei Teams besteht. Alles was es braucht, ist ein Gegner, der genauso sehr gewinnen will wie man selbst. Was von außen seltsam erscheint, ist für Sportler eine Frage der Ehre.
"Aber klar war das kurios", sagt Hartmut Nickel. Er hat die zwanzig Jahre mitgemacht. Vier auf dem Eis als Stürmer, den Rest hinter der Bande als Trainer von Dynamo Berlin. Geboren und zum Eishockey gekommen ist er aber in Weißwasser. Als Jugendspieler wurde er für zu leicht befunden und wechselte nach Berlin. Dort wurde Nickel Nationalspieler und schoss 70 Tore in 113 Oberligaspielen – mit Vorliebe gegen die Mannschaft seiner Heimatstadt. Die Zuschauer in Weißwasser konnten das nur schwer verkraften und gönnten ihm leidenschaftliche Pfiffe und Beschimpfungen.
Jeder hatte jeden schon mal ausgespielt
Weißwasser und Berlin kannten einander in- und auswendig. Da die Spieler schon seit der Jugend immer wieder gegeneinander spielten, hatte jeder jeden schon mal ausgespielt, jeder jeden schon mal umgehauen. "Als Verteidiger war das gut, weil man jeden Trick des Gegenspielers schon hundertmal gesehen hatte. Die Angreifer mussten sich anstrengen, sich was Neues einfallen lassen", sagt Nickel, der Angreifer.
In der Saison 1967/68 spielen noch acht Vereine in der DDR-Oberliga: Die ärgsten Rivalen der Dynamos sind Vorwärts Crimmitschau und Empor Rostock. Berlin wird Meister, Weißwasser Zweiter. Die besten Spieler der Liga fahren im Februar 1968 zu den Olympischen Spielen nach Grenoble. Es ist das erste Mal, dass eine DDR-Eishockeyauswahl sich für Olympia qualifiziert hat.
Die Mannschaft ist fit und frohgemut, die ganze Welt sieht zu, selbst die Heimat – das Staatsfernsehen überträgt alle Spiele der Endrunde. Doch dann: Sechs Niederlagen, gleich zu Beginn 0:9 gegen die Sowjetunion und 0:11 gegen Kanada. Und als furchtbaren Schlussakkord im siebten Spiel ein 2:4 gegen den Klassenfeind aus Westdeutschland.
Die Genossen in Ostberlin grollen, so eine Blamage darf sich nicht wiederholen. Ein Jahr nach Grenoble wird die Sportförderung komplett neu verteilt und auf die Sportarten konzentriert, die Medaillen versprechen. Eine Konzentration, sagten die Funktionäre, "unter den Bedingungen der DDR". Das heißt: kleines Land, großer Ressourcenmangel, großer Drang nach internationaler Anerkennung. Kühl ermitteln die Genossen, in welchen Sportarten mit minimalem Aufwand an Personal und Material maximale Erfolge zu erzielen sind. Eishockey, für das man Eishallen, Ausrüstung und viele Spieler braucht, zählt nicht dazu. Erst recht nicht nach Grenoble. Gefördert werden andere: Schwimmer, Eisschnellläuferinnen, Leichtathleten.
Mielke, der Retter
Heute lässt sich sagen: Ohne Mielke wäre alles vorbei gewesen. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit und Eishockeyenthusiast, setzte sich dafür ein, dass weitergespielt wurde, wenn auch im kleinstmöglichen Maßstab – mit zwei Mannschaften, Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser. Mielke konnte das: Die Dynamo-Sportvereinigungen der DDR unterstanden seinem Ministerium und wurden von ihm finanziert. Allen anderen Vereinen wurde die Förderung gestrichen, manche wurden auf ehrenamtlicher Basis am Leben gehalten. Weißwasser und Berlin spielten ab 1970 alleine weiter. Alle Jahre wieder, Saison für Saison, von Oktober bis Ende Februar.
Es ist nicht so, dass es keine anderen Spiele gegeben hätte. Der Meister qualifizierte sich für den Europapokal, reiste nach Norwegen, in die Schweiz, nach Frankreich. Weißwasser und Berlin spielten Freundschaftsspiele in ganz Europa, damit die Mannschaften zwischen den Ligaspielen gegeneinander im Wettkampfrhythmus blieben.
Dazu fand jährlich die Weltmeisterschaft statt, am Ende der Saison im Frühling. Die Spieler, die sich den Winter über bekriegt hatten, mussten sich zusammenraufen. "Da konnten wir nicht nur Weißwasser, sondern der Welt beweisen, was wir draufhatten", sagt Nickel. Wer sich reinhängte, hatte gute Chancen auf einen Kaderplatz in der Nationalmannschaft: Es gab ja nur 50 Spieler zur Auswahl: 25 aus Weißwasser, 25 aus Berlin.
"Nach der WM kam die Sommerpause, dann wieder Liga, Weißwasser, vielleicht Europacup, dann wieder WM, dann wieder Weißwasser, Weißwasser, Weißwasser. So sind die Jahre vergangen", erinnert Hartmut Nickel. Alles hinzuschmeißen kam aber nie in Frage: "Die bei der Sportführung haben vielleicht gedacht, irgendwann werden die Eishockeyleute schon die weiße Flagge ausm Fenster hängen und aufhören. Wir haben aber immer weiter gespielt." Ein Spiel, das nicht unterzukriegen war. Eishockey als Widerstand. Berlin-Weißwasser, Weißwasser-Berlin.