Zeitumstellung: Eisenbahner erfanden Europas Zeit
- ️Hellmuth Vensky
- ️Sat Mar 30 2013
Es war einmal eine Zeit …Nein, schon falsch. Es waren einmal zwei, drei, viele Zeiten. Zeit war subjektiv, die Zeit gab es nicht. Denn die Geschichte der Zeitmessgeräte reicht zwar weit zurück in die Antike, zur Sanduhr und Klepsydra. Aber die konnten nur messen, wie die Zeit verstrich, relativ zu einem vom Menschen bestimmten Zeitpunkt.
Um zu wissen, wie spät es objektiv an einem Ort war, gab es nur den Sonnenstand. Zwölf Uhr mittags war es über Jahrhunderte genau dann, wenn die Sonne den höchsten Punkt ihrer Bahn erreichte. Das geschieht zwar an all jenen Orten zur selben Zeit, die auf einer gemeinsamen geografischen Länge liegen. Nach Osten und Westen aber verschiebt sich die Mittagsstunde, pro Kilometer zwar nur um wenige Sekunden, aber immerhin. Also hatte jeder Ort seine eigene Zeit.
Die Bauern in mittelalterlichen Dörfern arbeiteten ohnehin nicht nine to five, sie mussten schaffen, was geschafft werden musste. Zum Gebet rief die Glocke, geläutet nach dem Sonnenstand. Schwieriger wurde es, als die Städte wuchsen. Verabredungen zwischen Handelspartnern, Sitzungen der Stadträte, Markt- und Sperrstunden: Die Stadt brauchte ihren Takt. Die Kirchturmuhren gaben ihn vor.
Reisende richteten sich nach der Zeit am Aufenthaltsort. Weil sie nur langsam vorankamen, werden sie kaum bemerkt haben, dass es nicht überall zur gleichen Zeit Mittag wurde. Erst als die Eisenbahn im 19. Jahrhundert entfernte Regionen miteinander zu verbinden begann, wurde es nötig, die Zeit überörtlich zu normen.
Die ersten Zeitzonen dachten sich Amerikaner aus
Nicht Staaten, sondern Eisenbahngesellschaften legten fest, welche Ortszeit in ihrem Streckennetz galt. So richteten sich die bayerischen Bahnen nach der Münchner, die Preußischen Staatseisenbahnen nach der Berliner Zeit, Unterschied: sieben Minuten. An Umsteigebahnhöfen wurde es verwirrend. Wo sich mehrere Linien mit oft nur um Minuten verschiedenen Zeiten trafen, verlangten Reisepläne nach höherer Mathematik.
Mit der Telegrafie wurden zentrale Zeitsignale möglich. In den 1840er bis 1860er Jahren legten viele europäische Staaten mit ihrer Hilfe landesweit einheitliche Zeiten fest, meistens orientiert an der Ortszeit der Hauptstadt. Im Flickenteppich der vielen Kleinstaaten des Deutschen Reiches half das allerdings auch nicht so recht weiter.
Die Idee der Zeitzonen hatten Eisenbahner in den USA. Nordamerika ist zu groß, um im kompletten Streckennetz mit derselben Zeit zu arbeiten; zu groß würde die Abweichung zur astronomischen Zeit. Also einigten sich die Eisenbahngesellschaften des Kontinents 1883, die von Ost nach West verlaufenden Strecken in vier, später fünf Zonen zu unterteilen.
Der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming hatte schon 1879 ein weltweites Zeitzonensystem vorgeschlagen. Doch erst 1884 teilte die Internationale Meridiankonferenz in Washington die Erde in 24 noch heute gültige Stundenzonen von je 15 Längengraden auf, deren Zeit sich jeweils um 60 Minuten unterschied. Als Nullmeridian dient der Längengrad, der durch das Observatorium in Greenwich bei London läuft.
Die Staatsbahnen führen die "mitteleuropäische Eisenbahn-Zeit" ein
Wie so vieles in Deutschland waren auch die Staatsbahnen im 1871 gegründeten Reich und in Österreich-Ungarn in einem Verein organisiert, dem Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen. Dort einigten sie sich mit Wirkung vom 1. Juni 1891 darauf, ihre Fahrpläne künftig nach der "mitteleuropäischen Eisenbahn-Zeit (MEZ)" abzustimmen.
Diese Zeitzone, in der es eine Stunde später ist als in der von Greenwich, war für das damalige Deutsche Reich ideal. Sie liegt jeweils 7,5 Grad links und rechts vom 15. Längengrad, der östlich von Berlin durch Stargard und Görlitz verläuft. Für Orte auf diesem Meridian ist 12 Uhr MEZ identisch mit dem astronomischen Mittag, dem höchsten Sonnenstand.
Heute liegt ungefähr am 15. Längengrad die deutsch-polnische Grenze, damals erstreckte sich das Deutsche Reich von hier etwa gleich weit nach Westen und nach Osten. Die Zeit war also für alle Bewohner ein annehmbarer Kompromiss zwischen der Zeit nach dem Sonnenstand und der Zeit, die in der Zone galt. Und auch Österreich-Ungarn passte wunderbar in die Zeitzone. Die kaiserlichen und königlichen Uhren mussten kaum verstellt werden: Sie hatten nach Prager Takt getickt, und der 15. Meridian läuft knapp an der Stadt vorbei.
Auch die Schweiz stellte die Uhren eine halbe Stunde vor
Die Südländer Baden, Bayern und Württemberg legten am 1. April 1892 per Gesetz fest, dass die MEZ auch außerhalb des Systems Eisenbahn zu gelten hatte. Ein Jahr später, am 1. April 1893, trat das "Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung" im ganzen Reich in Kraft, jetzt unter dem Namen, den die Zone bis heute trägt: Mitteleuropäische Zeit.
Die Schweiz, obwohl weit im Westen der Zone, schloss sich am 1. Juni 1894 an und stellte die Uhren um rund eine halbe Stunde vor. Seitdem gilt in den deutschsprachigen Ländern eine einheitliche Zeit. Längst richtet sie sich nicht mehr nach dem Sonnenstand im Fadenkreuz des Teleskops von Greenwich, sondern nach Atomuhren. Wenn heute zwei Uhren in der gleichen Region unterschiedliche Zeiten anzeigen, geht für gewöhnlich mindestens eine davon schlicht falsch.